Veröffentlicht am 20.03.2006
Kiel – Im vergangenen Jahr war es für diejenigen, die Physio-, Ergo- oder Sprachtherapie benötigten, recht einfach. Sie gingen zum Arzt und der schrieb ihnen gegebenenfalls eine entsprechende Verordnung aus. Doch seit dem 1. Januar diesen Jahres ist dies schwieriger geworden.
Die Ärzte sind von den Krankenkassen zu Einsparungen in diesem Bereich angehalten; ansonsten laufen sie Gefahr, dass sie die Mehrkosten aus eigener Tasche zahlen müssen. Bei einer Veranstaltung im Bürgerhaus Kronshagen mit Podiumsgästen aus der Ärzteschaft, Vertretern der Therapeuten, Patienten sowie Krankenkassen äußerten Betroffene ihren Unmut: Viele Ärzte reduzieren die Verordnungen drastisch, weil sie eine persönliche Haftung befürchten, Therapeuten bangen um ihre Existenz und Patienten haben Angst, dass die Sparmaßnahmen auf Kosten ihrer Gesundheit gehen.
Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein und die Krankenkassenverbände des Landes haben – auf Grund einer bundesgesetzlichen Vorgabe – ab 1.1.2006 Richtgrößen für die Verordnung von Heilmitteln (Physio-, Sprach- und Ergotherapie) festgelegt. Dies sind bestimmte Kostenrahmen, die der Arzt durchschnittlich für jeden Patienten zur Verfügung hat. Überschreitet er die Richtgrößen um mehr als 25 Prozent, geht die Krankenkasse davon aus, dass er unwirtschaftlich verordnet hat. Das Dilemma: Die Ärzte sind gesetzlich verpflichtet, Heilmittel zu verschreiben, wenn sie notwendig sind, doch wenn sie mehr Therapien für notwendig erachten, als das Budget hergibt, werden sie unter Umständen belangt. Die Reaktion der Ärzte: "Ein Teil liegt in Lauerstellung, ein Teil ist voller Entrüstung, ein anderer Teil kommt mit den Richtgrößen aus", so der Orthopäde Dr. Frank Pries.
Der Grund für die Sparmaßnahmen ist die Spitzenstellung, die Schleswig-Holstein bei den Ausgaben für Heilmittel einnimmt: Schleswig-Holstein liegt rund 34 Millionen Euro über dem Bundesdurchschnitt, so die Zahlen der Krankenkassen für das Jahr 2005. Dabei liegt Ergotherapie an erster Stelle, Sprachtherapie an zweiter Stelle und Physiotherapie an vierter Stelle im Bundesschnitt.
So sehen die Sparmaßnahmen aus: Ärzte sollen die Spreu vom Weizen trennen und in manchen Fällen anstelle von Therapie nun vermehrt Übungen für zu Hause oder Aktivitäten im Sportverein empfehlen. Außerdem sollen sie – wo möglich – nur noch Therapie für einmal die Woche statt zwei- oder dreimal in der Woche verschreiben. Sie sind zudem angehalten, auf Langzeitverordnungen zu verzichten und Patienten Therapiepausen einlegen zu lassen. Dies ist besonders für Menschen mit Behinderungen sowie chronisch oder schwer Erkrankte ein Problem. Ein Beispiel: Eine Patientin mit einer Multiple-Sklerose-Erkrankung hat bislang zweimal in der Woche Physio- und Ergotherapie erhalten. "Nun soll ich eine Therapiepause von zwölf Wochen einlegen, doch ich habe Angst, dass ich dabei ganz versteife", sagt die 36-jährige Patientin.
Ein weiteres Problemfeld: Alle Ärzte einer Fachgruppe erhalten dasselbe Budget für Heilmittel, doch je nach Versorgungsbereich unterscheidet sich der Bedarf an Heilmitteln. Ob ein Arzt ein Heim oder sogar mehrere betreut oder in einem Stadtteil mit einer problematischen Sozialstruktur praktiziert, hat keine Auswirkungen auf die Geldsumme, die er ausgeben darf. "Wir Ärzte beobachten eine starke Zunahme von Sprachauffälligkeiten bei Kindern", erläutert der Mettenhofer Hals-Nasen-Ohrenarzt Dr. Thomas Harder. "Wie passt es, bei den Sprachtherapien zu streichen, wenn Kinder möglichst früh eingeschult werden sollen?"
Die Vertreter der Krankenkassen verweisen dagegen auf den Sparzwang und einen Überschuss an Therapeuten. "Wo ein Angebot ist, wird auch ein Bedarf geweckt", so Rainer Faße von der AOK. Von Annette Göder