Veröffentlicht am 09.05.2006
Ahrens: "Gunst der Stunde für eine dauerhafte Reform nutzen"
03.05.06 (psg) Der AOK-Bundesverband setzt sich für eine dauerhaft wirkende Gesundheitsreform ein. Die Große Koalition biete die Chance, verkrustete Strukturen aufzubrechen und echte Reformen einzuleiten, sagte der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Hans Jürgen Ahrens. Kritik übte er am bislang vorliegenden Vorschlag für ein Fondsmodell. Es belaste die Versicherten zusätzlich, löse nicht das Problem sinkender Einnahmen und verursache neue Bürokratie, sagte Ahrens bei einer Veranstaltung seines Verbandes am 3. Mai 2006 in Liebenwalde bei Berlin. Angesichts neuer Milliardenbelastungen für die Kassen schon im nächsten Jahr fordert die AOK eine Zwischenlösung bis zum Wirksamwerden der geplanten Finanzreform.
"Wir unterstützen ausdrücklich das Prinzip Qualität vor Schnelligkeit,"
betonte Hans Jürgen Ahrens. "Finanz- und Strukturreform gehören für die AOK zusammen. Deshalb sollte es auch keine Gesundheitsreform nur um des Kompromisses zwischen Union und SPD willen geben. Wir brauchen eine dauerhaft tragende Reform." Weil der finanzielle Handlungsdruck aber gewaltig sei, brauche die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) bis zum Wirksamwerden einer großen Reform eine Zwischenlösung. Die gesetzliche Krankenversicherung befindet sich nach Darstellung von Ahrens bereits wieder auf einer "Schussfahrt ins Defizit". Das am 1. Mai in Kraft getretene Arzneimittelsparpaket wirke 2006 nur als schwache Bremse. Mindestens fünf Milliarden Euro fehlen der GKV Ende 2007 (siehe psg-Grafik 1). 2008 werde sich der Finanzdruck weiter verschärfen.
Unsichere SteuerfinanzierungEinen deutlichen Anteil am drohenden Milliarden-Defizit 2007 und 2008 hat das Abschmelzen des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen der Krankenkassen. 2007 kürzt die Bundesregierung den über die Tabaksteuer finanzierten Steuerzuschuss um 2,7 Milliarden Euro; 2008 fällt er ganz weg.
Dies zeige, wie riskant eine Steuerfinanzierung für die GKV sei und lasse auch das bislang vorliegende Fondsmodell zur Finanzierung der GKV riskant erscheinen, sagte Ahrens in Liebenwalde: "Die in einen Gesundheitsfonds eingebrachten Steuermittel sind mit einem erheblichen Risiko behaftet: Sie können jederzeit kurzfristigen haushaltspolitischen Zwängen geopfert werden.
Wenn Steuermittel, dann muss das eindeutig und verlässlich geregelt werden."
Aus Sicht der AOK ist das bekannt gewordenen Fondsmodell mit weiteren Nebenwirkung und Risiken behaftet. "Wenn es dabei bleibt, droht eine Mehrbelastung der Versicherten. Sie müssten neben den heute schon erheblichen Zuzahlungen über zusätzliche Prämien allein jeden medizinischen Fortschritt, aber auch jede unsinnige Ausgabenausweitung durch überteuerte Arzneimittel und medizinisch überflüssige andere Leistungen bezahlen", sagte AOK-Vorstandschef Ahrens.
Er appellierte an die Koalitionsparteien: "Setzt in der soziale Krankenversicherung nicht zu einem Großversuch mit hochgefährlichen Nebenwirkungen an. Überlastet die Kranken nicht mit den Kosten des medizinischen Fortschritts. Macht keine weiteren Leistungskürzungen. Schafft eine sichere Finanzierung solider Leistungen. Macht so auch Schluss mit der Diskussion um Leistungskürzungen zur Senkung der Lohnnebenkosten. Nutzt das Know-how der gesetzlichen Krankenkassen."
Bürokratischer SchildbürgerstreichDas Fondsmodell in seiner jetzigen Form widerspreche auch dem Ziel der Koalition, unnötigen Verwaltungsaufwand im Gesundheitswesen abzubauen, sagte
Ahrens: "Die Krankenkassen regeln den gemeinsamen Beitragseinzug für die
Kranken- und Pflegeversicherung sowie für die Renten- und Arbeitslosenversicherung effizient, kostengünstig und reibungslos. Mit dem Fonds in der bisher bekannten Ausgestaltung bekämen wir eine neue Superbehörde und müssten drei getrennte Einzugsverfahren einrichten. Das wäre ein grandioser Schildbürgerstreich. Staatlich eingezogene und verwaltete Finanzen passen einfach nicht zu einer wettbewerblich ausgerichteten GKV."
Chancen liegen im WettbewerbBei der Gesundheitsreform kommt es aus Sicht der AOK vor allem darauf an, mehr Vertragswettbewerb zu ermöglichen. Es gelte, veraltete Monopolstrukturen auf Seiten der Anbieter ärztlicher und anderer medizinischer Leistungen abzuschaffen. Zwinge man die gesetzlichen Krankenkassen weiter, jeden Kassenarzt und jedes Krankenhaus unabhängig von der Qualität und vom medizinischen Nutzen der jeweiligen Leistungen zu alimentieren, sei die nächste Finanzmisere programmiert. Notwendig sei es auch, endlich eine Kosten-Nutzen-Bewertung von Diagnose- und Therapieverfahren einzuführen. Insbesondere für den Bereich der Arzneimittelversorgung fordert die AOK neue, wettbewerbsorientierte Strukturen. "Die Politik braucht bloß die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu schaffen, damit die Krankenkassen direkt mit den Herstellern Preise und Mengen der Arzneimittelversorgung verhandeln können", so Ahrens. "Bislang müssen die gesetzlichen Krankenversicherungen alle rezeptpflichtigen Arzneimittel erstatten, die der Arzt verschreibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es ein preiswerteres Arzneimittel mit dem gleichen Wirkstoff gibt.
Diesen Kontrahierungszwang müssen wir lockern. Ein Einstieg dazu kann auf der Ebene der Arzneimittelwirkstoffe erfolgen. Dazu müsste eine zentrale Stelle - zum Beispiel der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen - eine Liste mit allen Wirkstoffen erstellen und veröffentlichen, für die die Krankenkassen Arzneimittel bereitstellen müssen. Die Krankenkassen könnten dann ausschreiben und den Bedarf an Arzneimitteln für ihre Mitglieder an einzelne Hersteller vergeben."
Politik muss jetzt Löcher stopfen, die sie selbst verursacht hatHans Jürgen Ahrens machte in Liebenwalde erneut darauf aufmerksam, dass die Politik selbst die Finanzkraft der GKV immer wieder geschwächt habe, um Löcher an anderer Stelle zu stopfen. "Hätten wir heute für Arbeitslose die gleiche Beitragsbemessungsgrundlage wie 1994, lägen die GKV-Einnahmen um vier Milliarden Euro höher und der Beitragssatz 0,4 Beitragssatzpunkte niedriger. Die Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes belastet die GKV mit einer weiteren halben Milliarde. Hinzu kommen Mindereinnahmen von 180 Millionen durch das erneute Absenken der Beiträge für Arbeitslosengeld-II-Empfänger." Das Verschieben von Finanzierungslasten des Bundes auf die GKV sei immer noch schlechte Staatspraxis, beklagte der AOK-Chef. "Die staatlich verursachten Mittelausfälle der gesetzlichen Krankenkassen summieren sich inzwischen auf jährlich rund neun Milliarden Euro."
Um die Finanzkraft der Kassen zu stärken, setzt die AOK darauf, auch Vermögenseinkünfte zur Beitragsbemessung heranzuziehen. Als alleiniger Maßstab der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Versicherten reichten Arbeitnehmerentgelte, Renten und andere Entgeltersatzleistungen nicht mehr aus.
Fairer Wettbewerb zwischen GKV und PKVEine wichtige Ursache der GKV-Einnahmeschwäche ist aus Sicht der AOK auch der Wechsel gesunder und zumeist sehr gut verdienender Versicherter in die private Krankenversicherung (PKV). "In den letzten fünf Jahren sind im Durchschnitt über 330.000 Versicherte pro Jahr abgewandert. Diese Risikoselektion der PKV belastet den GKV-Beitragssatz dauerhaft mit 0,3 bis
0,5 Prozentpunkten", erläuterte Hans Jürgen Ahrens. "Die These der PKV, sie subventioniere die GKV durch höhere Arzthonorare, wird durch eine Studie des Wissenschaftlichen Instituts der AOK nachdrücklich widerlegt. Dieser permanente Exodus schädigt die Einnahmegrundlagen der gesetzlichen Krankenversicherung schwer."
Der AOK-Bundesverband plädiert deshalb laut Ahrens analog zur bisherigen Regelung in den Niederlanden für eine adäquate Solidarabgabe der PKV. Soweit eine Rückkehr in die GKV aus versicherungssystematischen Gründen nicht vermeidbar sei, müsse es zu einem Transfer der aufgelaufenen Alterungsrückstellungen von der PKV in die GKV kommen. Ahrens:
"Grundsätzlich gilt: Fairer Wettbewerb zwischen GKV und PKV braucht gleiche Wettbewerbschancen. Daran müssen sich alle politischen Reformen messen lassen."
Aktuelle Infos, Zeitplan und Akteure der geplanten Gesundheitsreform, die Positionen der AOK, die Programme der Parteien und das Wichtigste zu den bisherigen Reformen:
http://www.reform-aktuell.de