Veröffentlicht am 16.07.2006
13.07.06 (psg). Die Große Koalition hat mit ihren Eckpunkten zur Gesundheitsreform die entscheidenden Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) nicht gelöst. Mit dem geplanten Gesundheitsfonds werde eine neue Bürokratie geschaffen, ohne die Finanzgrundlage der Kassen langfristig zu sichern, kritisiert der Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Dr. Hans Jürgen Ahrens, im Interview mit dem AOK-Mediendienst.
Haben Union und SPD mit dem geplanten Gesundheitsfonds die Voraussetzung für eine dauerhafte Finanzgrundlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) geschaffen? Ahrens: Nein. Es wird noch mehr Unsicherheit geben als bisher. Die Finanzwirkungen der Eckpunkte geben ja nicht einmal für die nächsten zwei, drei Jahre finanzielle Sicherheit. Damit ist schon heute klar: Große Versorgerkassen mit vielen Kranken unter ihren Mitgliedern werden dann eine Kopfpauschale verlangen müssen.
Was ist falsch gelaufen?Ahrens: Die Koalition plant ein neues Finanzierungsmodell, aber zugleich belässt sie es mit den Beiträgen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern bei den Finanzquellen, von denen die Regierung doch behauptet, sie seien nicht mehr tragfähig. Schlimmer noch: Sie kürzt sogar den Beitrag, den alle Steuerzahler zur Finanzierung des Gesundheitssystems aufbringen. Dafür sollen Arbeitnehmer und Unternehmen 2007 eine Beitragssatzerhöhung von mindestens 0,5 Prozentpunkten hinnehmen. Und das passiert, obwohl die Koalition angetreten ist, die Lohnnebenkosten zu senken.
Aber die Regierung spricht vom Einstieg in eine Steuerfinanzierung.Ahrens: Zutreffender wäre es, von einem Ausstieg aus der Steuerfinanzierung zu sprechen. Mit der Gesundheitsreform 2004 ist erstmals ein Bundeszuschuss eingeführt worden. Die Krankenkassen erhalten seitdem Steuergelder, um gesamtgesellschaftliche Aufgaben zu finanzieren, die sie erbringen. Dazu zählt etwa das Mutterschaftsgeld. Für diesen Bundeszuschuss ist sogar die Tabaksteuer angehoben worden. 2006 bekommen die Kassen dafür insgesamt 4,2 Milliarden Euro. Die Regierung hat diesen Zuschuss für 2007 bereits auf 1,5 Milliarden Euro gekürzt, um den Bundeshaushalt zu sanieren. Für den künftigen Gesundheitsfonds sind 2008 jene 1,5 Milliarden Euro vorgesehen, 2009 sollen es drei Milliarden Euro sein. Das sind knapp 30 Prozent weniger als in diesem Jahr. Die Krankenkassen sollen also weiterhin die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben erbringen, aber sie erhalten dafür weniger Steuergelder.
Mit anderen Worten: Aus Ihrer Sicht sollte man auf den Fonds verzichten?Ahrens: Er ist völlig überflüssig. Damit wird eine neue Superbehörde geschaffen, die aber weniger Aufgaben erledigen soll als derzeit die Krankenkassen. Die ziehen nämlich die Beiträge für alle fünf Sozialversicherungen ein. Der Fonds beschränkt sich lediglich auf die Krankenkassen. Und eine Steuerfinanzierung ist jetzt schon möglich, wie der Bundeszuschuss seit 2004 zeigt.
Mit dem Gesundheitsfonds wird für den Versicherten der Vergleich zwischen den Krankenkassen einfacher. Kassen, die mit den Pauschalen aus dem Fonds nicht auskommen, müssen eine Zusatzprämie verlangen. Dafür können sie, wenn sie sparsam wirtschaften, ihren Versicherten zu viel gezahlte Beiträge rückerstatten.Ahrens: Nein, das ist falsch. Nicht die sparsam wirtschaftenden Kassen können ohne Zusatzprämie auskommen, sondern Kassen, in denen nur wenige Versicherte krank sind. Das ist ein schlimmer Konstruktionsfehler der Reform. Eine Kasse, die keine gute medizinische Behandlung von Kranken bietet und deshalb für Kranke unattraktiv ist, wird niedrigere Kosten haben. Damit ist sie für jene Versicherten interessant, die gesund sind und lieber Rückerstattungen haben wollen, als Zusatzprämien für eine hochwertige Versorgung zu zahlen. Das aber verkehrt den Sinn einer gesetzlichen Krankenversicherung in sein Gegenteil. Nur der gesunde Versicherte ist dann noch begehrt. Und die Kranken werden über die Zusatzprämien die Hauptlasten künftiger Kostensteigerungen tragen.
Wird aber nicht ein verstärkter Wettbewerb zwischen den Kassen dazu beitragen, die Kosten zu senken?Ahrens: Welcher Wettbewerb? Die Große Koalition nimmt den Kassen mit ihren Plänen einige der wichtigsten Instrumente für einen Wettbewerb, anstatt ihnen neue zu geben. Die Kassen dürfen nicht mehr über die Höhe des Beitragssatzes bestimmen; das macht künftig der Gesetzgeber. Der entscheidet ohnehin schon über den Leistungskatalog der GKV. Wenn die Kassen weder den Beitragssatz noch die Leistungen festlegen dürfen – wie soll da Wettbewerb funktionieren?
Das heißt: Die Selbstverwaltung der gesetzlichen Krankenkassen verliert ihr Haushaltsrecht?Ahrens: Richtig. Die Selbstverwaltung wird de facto vom Staat entmachtet. In Zeiten, in denen viele aus Politik und Wirtschaft fordern, dass der Staat Aufgaben abgeben und der Einzelne mehr Verantwortung übernehmen solle, passt es nicht, wenn die Große Koalition die Gestaltungsmacht des Staates ausweitet und die Verantwortlichkeiten von Versicherten und deren Arbeitgebern zurückdrängt. Der Beitragssatz wird künftig vom Staat festgesetzt. Der Beitrag ist damit eigentlich nichts anderes als eine Steuer, allerdings mit dem ungerechten Unterschied, dass nur die GKV-Mitglieder diese Beitragssteuer bezahlen müssen.
Wird sich aber mit dem Fonds nicht der Druck auf die Krankenkassen vergrößern, eine möglichst effiziente medizinische Versorgung zu gewährleisten? Das könnte doch den auch von der AOK geforderten Wettbewerb verstärken.Ahrens: Hier entsteht nur Druck auf die Kassen, möglichst wenig für medizinische Versorgung auszugeben. Das wird sogar dazu führen, dass Kassen freiwillige Leistungen streichen oder Leistungen sehr restriktiv gewähren werden. Wir brauchen aber mehr Wettbewerb um die beste Versorgung und mehr Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern. Hier nutzt der Fonds gar nichts. Besonders ärgerlich ist es, dass uns in den Eckpunkten neue Instrumente für den Wettbewerb verweigert werden.
Es gibt aber doch auch positive Entwicklungen, z.B. die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln.Ahrens: Ja, das ist einer der wenigen positiven Ansätze. Allerdings verlässt die Große Koalition sofort wieder der Mut, den Weg konsequent weiterzugehen. Jetzt ist geplant, dass die Apotheker künftig Preisverhandlungen mit den Pharmaherstellern machen dürfen. Als Zielmarke haben Union und SPD 500 Millionen Euro Einsparungen für die Kassen vorgegeben. Machen die Hersteller nicht mit, müssen die Apotheker aus ihrer Tasche den Kassen die Differenz bis zu den 500 Millionen Euro an Rabatten gewähren. Das ist doch ein völlig unnötiger und viel zu komplizierter Umweg. Wenn die Politik mehr Wettbewerb im Arzneimittelmarkt will, soll sie den Kassen Direktverträge mit den Herstellern ermöglichen. Was spricht dagegen, dass eine AOK die Versorgung ihrer Versicherten mit einem bestimmten Wirkstoff ausschreibt und dann den Anbieter mit den besten Konditionen auswählt?
In der ambulanten Versorgung können die Kassen künftig ihr Verhandlungsgeschick unter Beweis stellen: Die Vergütung der niedergelassenen Ärzte soll von Punktwerten auf pauschale Preise in Euro und Cent umgestellt werden. Ist das den Kassen zu viel Markt?Ahrens: Nein, es ist zu wenig Markt. Pauschale Preise anstelle der heutigen Punktwerte ist der grundsätzlich richtige Weg. Aber die Große Koalition will, dass weiterhin auf Landesebene alle Kassen gemeinsam mit der jeweiligen Kassenärztlichen Vereinigung die Preise einheitlich festlegen. Das hat mit Markt nichts zu tun, weil alle Kassen denselben Vertrag zu denselben Konditionen anbieten müssen. Das hat auch mit Wettbewerb unter den Leistungsanbietern nichts zu tun. Denn den Kassen wird erneut die Möglichkeit verweigert, ihre Versicherten nur von Ärzten mit einem besonders hohen Qualifikationsprofil behandeln zu lassen. Wir werden weiterhin jeden niedergelassenen Arzt unabhängig von der Qualität seiner Leistungen bezahlen müssen. Das hat doch nichts mit Wettbewerb zu tun.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) fordert, dass das Honorarvolumen für die Ärzte um 20 Prozent erhöht wird.Ahrens: Da sehen Sie, welche Begehrlichkeiten geweckt werden, wenn die Politik einer Gruppe verspricht, dass andere künftig alles bezahlen werden. 20 Prozent mehr an Honoraren würden die Beitragssätze um einen halben Prozentpunkt nach oben treiben. Die KBV überspannt den Bogen.