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Heilmittelversorgung: Neustart für die Rahmenbedingungen dringend erforderlich

Veröffentlicht am 20.06.2025

Ein Kommentar von Christine Donner und Volker Brünger

Eine Wiederholung vorweg ist erforderlich, weil diese eine Erkenntnis scheinbar immer wieder aus den Köpfen fällt: Die demografische Entwicklung stellt uns im Gesundheitswesen und auch volkswirtschaftlich vor große Herausforderungen – die Heilmittelversorgung ist eine enorm wichtige Stellschraube zur Bewältigung dieser Herausforderungen mit bisher noch ungenutztem Potenzial.

Kleinteiliger Regelungsrahmen

Die Versorgung mit Heilmitteln (Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie, Podologie und Ernährungsberatung) ist für gesetzlich Versicherte streng reglementiert. Grundsätzlich ist eine ärztliche Verordnung für die Inanspruchnahme einer Heilmittelleistung erforderlich. Die Ausstellung einer solchen Verordnung ist durch die übergeordnete Heilmittelrichtlinie detailreich geregelt. Als Anlage zu dieser Richtlinie gibt es den Heilmittelkatalog, in dem Diagnosebeispiele in Diagnosegruppen eingeteilt werden und diesen werden wiederum orientierende Behandlungsmengen, Höchstmengen je Verordnung und Frequenzempfehlungen zugeordnet.

Diese Zuordnung erfolgt ohne jegliche Evidenz und erschwert eine patientenindividuelle und damit effiziente Versorgung. Zudem sorgen diese kleinteiligen Regelungen für eine hohe Fehleranfälligkeit bei der Verordnung und Abrechnung der notwendigen Leistungen und damit für erheblichen bürokratischen Aufwand. Ein etwaiger Nutzen kann hingegen nicht belegt werden.

Im Gegenteil müsste man ehrlicherweise diskutieren, ob starre Verordnungsmengen über Jahre hinweg nicht vielleicht eine Versorgungsrealität auf Seiten der Therapierenden und ein Anspruchsverhalten seitens der Versicherten künstlich generiert haben und die Frage stellen, ob dies wirklich erstrebenswert ist.

Zusätzlich wird das Verordnungsverhalten der Ärzte durch Heilmittelvereinbarungen auf Länderebene in den einzelnen Bereichen der Kassenärztlichen Vereinigungen reguliert. Dazu vereinbart die Kassenärztliche Bundesvereinigung mit der GKV Rahmenvorgaben, die als Grundlage für diese regionalen Vereinbarungen dienen. On top gibt es in einigen Regionen (z. B. Schleswig-Holstein) Zielvereinbarungen, die mit ganz konkreten Mengenvorgaben in das ärztliche Verordnungsverhalten eingreifen. Spricht man KV oder Kassen auf solche Zielvorgaben an, übertreffen sich beide mit Relativierungen und Verweisen auf den jeweils anderen und überhaupt würden solche Vereinbarungen ja auch gar nicht „gelebt“ – Willkommen in Absurdistan.

Misstrauenskultur prägt den Versorgungsrahmen

Letztendlich ist insbesondere auch der Heilmittelkatalog nichts weiter als ein (sehr umständliches) Instrument zur Mengensteuerung – die Verordnung von Heilmittelleistungen soll in der Menge nicht „ausufern“. Dahinter steht die Idee – oder man muss schon fast sagen der Glaubensgrundsatz – dass Patient*innen Heilmittelleistungen ungehemmt nachfragen, Ärzt*innen ungehemmt verordnen und Therapeut*innen ungehemmt erbringen, sofern man keinen strengen Rahmen vorgibt.

Dies ist eher als die „Dreifaltigkeit des Misstrauens“ zu bezeichnen, denn es gibt keinerlei Belege für diese Annahme – erst recht nicht unter den Bedingungen des Fachkräftemangels und der demografischen Entwicklung, denn der Mangel an Ressourcen bietet überhaupt keinen Anreiz für ein ungehemmtes Angebot an Leistungen.

Die bisherigen Regelungen entspringen einer gewachsenen Misstrauenskultur, die sich beispielsweise auch in den Verhandlungen zur neuen Versorgungsform der Blankoverordnung widergespiegelt hat. Die regelmäßig vorgeschobene Angst der Krankenkassenfunktionäre, den Rahmen eines für sie etablierten (Mengensteuerungs-) Systems auch nur partiell zu verlassen, war direkt greifbar und handlungsleitend.

Angst als Steuerungsinstrument – verkleidet als Sorge

Die Krankenkassen präsentieren ihre Haltung gegenüber neuen Versorgungsmodellen wie der Blankoverordnung gern als Ausdruck berechtigter Vorsicht – tatsächlich handelt es sich jedoch um eine strategisch gepflegte Angstkultur. Diese funktioniert als einfache, aber hochwirksame Rechtfertigung für Stillstand. Angst – etwa vor ausufernden Verordnungen, Kontrollverlust oder steigenden Kosten – erlaubt es, sich jeder strukturellen Reform zu entziehen, ohne sich offensiv gegen Versorgungsgerechtigkeit stellen zu müssen. Sie wird als „Sorge um das System“ inszeniert, ist aber in Wahrheit ein Systemerhaltungsmechanismus, der tief in den Strukturen der gesetzlichen Krankenversicherung verankert ist.

Warum ist Angst hier so effizient? Weil sie kein Beweis, sondern ein Gefühl ist – schwer greifbar, aber politisch anschlussfähig. Sie entzieht sich faktenbasierter Argumentation, immunisiert gegen evidenzgestützte Modelle wie die Blankoverordnung und erlaubt, überkommene Kontrollmechanismen wie den Heilmittelkatalog am Leben zu halten, obwohl deren Nutzen längst widerlegt ist. Die Folge: Nicht Patientenbedarfe oder therapeutische Kompetenzen steuern die Versorgung, sondern institutionelle Ängste – mit dem einzigen Ziel, Veränderung zu verhindern.

Angst teilweise auch als Ratgeber auf Leistungserbringerseite

Doch auch auf der Seite der Leistungserbringerverbände gibt es völlig irrational teilweise starke Vorbehalte gegen die Blankoversorgung. Hier ist die Angst davor, dass die Blankoverordnung einen möglichen Direktzugang verhindern könnte, so ausgeprägt, dass man die gravierenden Unterschiede und Versorgungseffekte ausblendet oder schlicht nicht erkennt und in der Folge seit über 20 Jahren im Sinne des Direktzugangs immerwährend die gleiche Argumentationslinie fährt.

Tatsächlich muss man diese beiden Versorgungsformen deutlich voneinander trennen. Ein möglicher Direktzugang - das wissen wir aus den Erfahrungen in anderen Ländern – adressiert in erster Linie jüngere Patienten, die besser gebildet sind, eine gewisse Therapieerfahrung besitzen und in der Regel Erkrankungen aus dem muskuloskelettalen Bereich aufweisen. Also eine Gruppe von Patienten, die häufig nicht schwer erkrankt ist und um die Möglichkeit und die Wirksamkeit einer Heilmitteltherapie weiß. Der Direktzugang würde somit nur eine weitere - und wenn wir die Morbiditätsentwicklung betrachten, sicher auch die seltenere – Zugangsform darstellen. Ganz klar aber auch eine Zugangsform, die zur Sicherstellung und Flexibilisierung der Versorgung dringend notwendig ist.

Die Blankoversorgung adressiert hingegen grundsätzlich alle Patienten, insbesondere diejenigen mit schweren Erkrankungen und Komorbiditäten. Sehr häufig werden hier ein Arztkontakt und die Inanspruchnahme anderer Gesundheitsleistungen ohnehin notwendig sein. Diese Versorgungsform sollte mithin aufgrund ihrer immensen Versorgungsrelevanz zukünftig den Regelfall darstellen, während der Direktzugang die Ausnahme bleibt. Dennoch sind beide Formen elementar, wirken zusammen und schließen sich nicht gegenseitig aus.

Angst ist demnach bei der Betrachtung der Blankoversorgung der falsche Ratgeber.

Versorgung ist günstiger als Pflege – und produktiver für die Gesellschaft

Selbst wenn eine intensivierte Nutzung ergotherapeutischer oder anderer Heilmittelleistungen zu höheren kurzfristigen Ausgaben führt, ist sie langfristig eine hochrentable Investition in die gesellschaftliche Stabilität. Denn die demografische Entwicklung sorgt zwangsläufig für steigende Bedarfe – nicht, weil Menschen wählerischer würden, sondern weil sie älter werden, häufiger mit chronischen Erkrankungen leben und dennoch möglichst lange arbeitsfähig bleiben sollen.

Gerade darin liegt der volkswirtschaftliche Schlüssel: Heilmittel wie Ergotherapie sichern nicht nur Selbstständigkeit und Lebensqualität – sie ermöglichen Menschen, ihre Fähigkeiten länger aktiv ins Erwerbsleben einzubringen und somit direkt zum Bruttosozialprodukt beizutragen. Das gilt ebenso für Kinder mit Entwicklungsverzögerungen oder Handicaps: Frühzeitige therapeutische Unterstützung stärkt Resilienz und Handlungskompetenz – Grundlagen für gesellschaftliche Teilhabe und wirtschaftliche Selbstständigkeit im Erwachsenenalter.

Ein konkretes Beispiel unterstreicht das eindrucksvoll:
Eine ergotherapeutische Versorgung mit durchschnittlich 54 Einheiten pro Jahr kostet rund 5.216 € pro Person. Dem gegenüber stehen jährliche Pflegekosten von mindestens 6.192 € allein im Pflegegrad 1. Wird durch rechtzeitige Therapie der Eintritt in eine Pflegestufe auch nur verzögert oder verhindert, ergibt sich bereits eine Nettoersparnis von rund 1.000 € pro Person und Jahr – bei gleichzeitig gesteigerter Lebensqualität. Und das ist nur der Anfang:
Im Pflegegrad 3 belaufen sich die durchschnittlichen jährlichen Pflegekosten auf rund 29.063 €, wodurch sich eine Nettoersparnis von über 23.800 € durch verhinderte Pflegebedürftigkeit ergibt.

Diese Rechnung ist eindeutig:
Therapeutische Versorgung spart nicht nur Kosten – sie sichert produktive Lebensjahre, ermöglicht gesellschaftliche Teilhabe und reduziert die Pflegelast im System. Je höher der vermiedene Pflegegrad, desto größer die Effizienz. Heilmittelversorgung ist damit keine Belastung, sondern eine lohnende Investition in die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.

Die Realität: Versorgung wird erschwert oder sogar verhindert

Die Rückmeldungen aus der Versorgung zeigen hingegen ein erschreckendes Bild. Die kleinteiligen Regelungen führen zu Fehlern bei der Ausstellung von Verordnungen, zu Fehlern bei der Abrechnung, zu Kürzungen der Honorare bei Therapeut*innen, zu unnötigen Arzt-Patientenkontakten für Korrekturen und zu Regressangst bei den Verordnenden und damit auch zu Therapieunterbrechungen oder sogar zu einem Versorgungsausschluss. Diese Erkenntnisse sind nicht neu, werden von Leistungserbringerseite regelmäßig kommuniziert und genauso regelmäßig speziell von Kassenseite negiert und dementiert.

Mit etwas Mut weiterdenken

Mit etwas Mut und deutlich weniger Misstrauen könnte die Erkenntnis greifen, dass mehr Entscheidungsfreiheit für Therapeut*innen und Patient*innen und weniger Regress- und Regelungsdruck auf ärztlicher Seite besser und effizienter für die Versorgung sind als ein willkürlich konstruiertes Mengensteuerungssystem.

Mit der Blankoverordnung haben wir ein Instrument, dass die Kompetenzen der Therapeut*innen besser abbildet und die Verordnung auf das beschränkt, was Ärzt*innen tatsächlich entscheiden können. Die ersten Ergebnisse aus der Ergotherapie zeigen deutlich positive Effekte der Blankoverordnung und eben auch, dass die Mengen entgegen der Befürchtungen der Kassen nicht ungehemmt ausgeweitet werden.

Allerdings haben wir als BED uns sehr bewusst für die gelbe Phase im Ampelsystem eingesetzt und für deren Einführung erfolgreich gekämpft, denn genau hier entsteht der Raum für flexible Versorgung. Ein Umstand, den man offensichtlich in der Physiotherapie nicht verstanden hat und der dort bei der Bewertung der neuen Versorgungsform eventuell noch zu Problemen führen wird.

Natürlich gibt es aktuell noch Punkte, die bei der Versorgung nach § 125a SGB V nachgebessert werden müssen. Dazu gehören beispielsweise sicherlich Liquiditätsprobleme aufgrund fehlender Möglichkeit zur Zwischenabrechnung, die Höhe der Zuzahlungen und die teilweise überraschend geringe Akzeptanz auf ärztlicher Seite.

Zukünftig besser durch weniger Regelungsdichte und ohne Heilmittelkatalog

Wenn die Krankenkassen ihre Misstrauenskultur – und die dahinterliegende strategische Angsthaltung – nicht grundlegend aufgeben, bleibt die Heilmittelversorgung ein System der Behinderung statt der Befähigung. Nur durch den bewussten Abschied von pauschalem Generalverdacht gegenüber Ärzt*innen, Therapeut*innen und Patient*innen kann eine effektive, individualisierte Versorgung ermöglicht werden.

Die Ausweitung der Blankoversorgung auf alle Bereiche wäre ein wichtiger Schritt zur Entbürokratisierung und zu einer besseren Versorgung. Im Gleichschritt mit den Möglichkeiten der Digitalisierung – etwa der taggenauen Abrechnung der erbrachten Leistungen in Echtzeit – besteht großes Potenzial, das bisherige Bürokratiemonster Heilmittelversorgung zu zähmen. Heilmittelvereinbarungen, Heilmittelzielvereinbarungen und auch der Heilmittelkatalog hätten ausgedient.

Nicht eine stärkere Kontrolle, sondern ein stärkeres Vertrauen in die vorhandenen Ressourcen und Kompetenzen ist der Schlüssel für eine zukunftsfähige Heilmittelversorgung. Die demografische Entwicklung, der Fachkräftemangel und die steigende Morbidität erfordern eine neue Logik der Gestaltung – eine Logik, die auf Kooperation, nicht auf Abschottung setzt. Wer jetzt den Mut hat, die Misstrauenskultur zu überwinden, schafft Raum für Innovation, Entbürokratisierung und – vor allem – eine Versorgung, die das leistet, wofür sie gedacht ist: Menschen helfen.

Auf unserer Webseite arbeiten wir teilweise sprachlich dem Duden entsprechend mit dem generischen Maskulinum. Dies bedeutet, dass die allgemein bekannte verallgemeinernde, grammatikalisch männliche Bezeichnung gewählt wird. Hiermit sind in jedem Fall Personen aller Geschlechter gleichermaßen gemeint.
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