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Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff im Interview

Veröffentlicht am 16.03.2009


Quelle: ksta.de (Kölner Stadt-Anzeiger)

„Diese Kinder sind nicht lebenstüchtig“


Der Kinderpsychiater Michael Winterhoff hat vor gut einem Jahr mit seinem Buch „Warum unsere Kinder Tyrannen werden“ für Diskussionen gesorgt. Auch in seinem zweiten Bestseller stellt er wieder kontroverse Thesen auf. Wir haben ihn interviewt.



KÖLNER STADT-ANZEIGER 
Herr Winterhoff, in Ihrem neuen Buch geht es wieder um Kinder, die reihenweise zu Tyrannen mutieren. Ist das nicht übertrieben?

MICHAEL WINTERHOFF
Dass immer mehr Kinder auffällig werden, sieht man in den Schulen, Lehrer können Ihnen das bestätigen. 2004 waren 20 Prozent der 18-Jährigen nicht arbeitsfähig. Wir haben heute Institutionen wie das Berufsvorbereitungsjahr, die wir früher gar nicht gebraucht haben. Nach einer Studie der DAK waren 2005 30 Prozent der Kinder in Behandlung, bekamen Ergotherapie, Psychotherapie, Logopädie. Und die Zahl der Kinder, die am Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom leiden, steigt immer weiter. Für mich ist die Zunahme fachlich unumstritten.

Was meinen Sie damit, dass Kinder zu Tyrannen werden?

WINTERHOFF
Ich will damit nicht sagen, dass diese Kinder bewusst andere tyrannisieren. Sie bleiben in einer Entwicklungsphase von zehn bis 16 Lebensmonaten, in der Kinder das Weltbild haben: Ich kann alles bestimmen. Wenn sie sich aber nicht weiterentwickeln, sind sie letztlich nicht lebenstüchtig. Sie leben im Moment, es geht nur um Lust und Lustbefriedigung.

Ihr Buch heißt im Untertitel: „Warum Erziehung allein nicht reicht“ - was soll das heißen?

WINTERHOFF
In den letzten Jahren hat sich der Erziehungsbegriff bei vielen Eltern reduziert auf die Vorstellung, Kinder sollten Regeln lernen und sich entsprechend verhalten. Das ist einerseits eine fatale Reduktion des Begriffs - das würde ja heißen, dass sich Kinder vor allem anpassen sollen. Mir geht es aber gar nicht um diesen Prozess, sondern um die Reifeentwicklung. Deren Ziel muss sein, dass ein Kind so leben kann wie wir, wenn es erwachsen ist. Und das geht nicht über das Lernen von Regeln. Wir kommen zum Beispiel nicht auf die Idee, zu klauen - nicht, weil wir die Regeln kennen, sondern weil wir unsere Eltern erlebt haben auf der Beziehungsebene, mit Tausenden von kleinen Reaktionen: Wann haben sie sich gefreut, wann geärgert? Das gibt uns Sicherheit, was richtig und was falsch ist.

Beziehung statt Erziehung - heißt das, wenn ich zu meinem Kind die richtige Beziehung habe, wenn es sich richtig entwickelt, dann muss ich es gar nicht mehr erziehen?

WINTERHOFF
Das ist der Punkt. Es ist in uns angelegt, mit Kindern umzugehen und eine Reifeentwicklung der Psyche ist nur über den Weg der Intuition zu erreichen. Wenn ein Kind hinfällt, muss ich auf zehn Meter Entfernung entscheiden können, ob ich es trösten muss oder ob ich es eingrenzen muss, weil es hysterisch schreit. Das geht nur über das Gespür. Wenn Sie ein Kind als Kind begreifen und intuitiv handeln, ergibt sich Vieles automatisch. Dann braucht man auch keinen Erziehungsratgeber.

Warum ist dieses intuitive Erziehen überhaupt zum Problem geworden, wenn es uns doch angeboren ist?

WINTERHOFF
Viele Eltern sind verunsichert, sie ruhen nicht mehr in sich selbst. Letztlich geht es um die Frage: wo sehe ich für mich den Lebenssinn, und wie kann ich den für mich finden in einer Gesellschaft, die mir keine positiven Perspektiven mehr bietet?

Wenn Eltern wieder zu sich selbst finden - das wäre der erste Schritt, um wieder mit ihren Kindern zurechtzukommen?

WINTERHOFF
Ja. Es sind immer mehr Erwachsene im Hamsterrad. Das liegt auch daran, dass wir jeden Tag mit Negativnachrichten konfrontiert werden. Das ist ein Problem für unsere Psyche - die schaltet irgendwann um auf Katastrophe. In einer Katastrophe ist man 24 Stunden wach und versucht, zu retten was zu retten ist. So sind viele Menschen drauf. Wenn ihnen das bewusst wäre, könnten sie gegensteuern - und sich, gerade wenn sie Kinder haben, überlegen, ob all das, was sie sich aufladen, wirklich Sinn macht. Es ist viel wichtiger, dass ich Zeit habe für das Kind, nicht, um die gleich wieder zu füllen, sondern um es im Alltag zu begleiten, beim Zimmeraufräumen, Hausaufgaben machen, waschen.

Müsste man Eltern nicht unterstützen, damit es gar nicht erst soweit kommt?

WINTERHOFF
Mein Traum wäre, in der ersten Klasse der Grundschule oder in einem Vorschuljahr die Kinder von Pädagogen mit dem Know-how der Entwicklungspsychologie auf den Reifegrad für die Grundschule zu bringen, damit sie den Lehrer als Lehrer anerkennen und dem Unterricht folgen können. Auch eine frühe Elternberatung im Sinne einer Begleitung wäre sehr wichtig

Sie kritisieren den „partnerschaftlichen Umgang“ mit Kindern, warum?

WINTERHOFF
Weil eine Reifeentwicklung nicht über den Weg des Erklärens funktioniert. Sie können auch Tennis nicht lernen, wenn es Ihnen nur jemand erklärt. Ein Kind muss angeleitet und begleitet werden. Ein weit verbreitetes Missverständnis ist auch, Selbstständigkeit und Selbstbestimmung gleich zu setzen. Ich selbst arbeite den ganzen Tag selbstständig, bin aber bestimmt durch meine Patienten. Ein Kind hat die Vorstellung, dass es 24 Stunden bestimmen kann. Wenn es nicht erlebt, dass es auch bestimmt wird, kann es später Fremdbestimmung etwa durch einen Lehrer nicht akzeptieren.

Wegen solcher Thesen werden Sie oft mit den Verfechtern von „mehr Disziplin“ wie Bernhard Bueb verglichen.

WINTERHOFF
Es geht mir überhaupt nicht um Disziplin, Strenge, Konsequenz oder Strafen. Es geht darum, dass sich eine Beziehung bilden muss, und genau deswegen wird das Kind sich später entsprechend verhalten. Ein Fünfjähriger hört nicht auf seine Mutter aus Angst vor Verboten - er tut es gerne für die Mutter.

Und hört deshalb aufs Wort?

WINTERHOFF
Auch gesund entwickelte Kinder benehmen sich mal daneben, verweigern sich, sind frech - das Kind ist in dem Moment aggressiv geladen und lebt die Aggression da aus, wo es sich sicher fühlt. Und das ist zuhause.


Das Interview führte Silke Offergeld.



Auf unserer Webseite arbeiten wir teilweise sprachlich dem Duden entsprechend mit dem generischen Maskulinum. Dies bedeutet, dass die allgemein bekannte verallgemeinernde, grammatikalisch männliche Bezeichnung gewählt wird. Hiermit sind in jedem Fall Personen aller Geschlechter gleichermaßen gemeint.
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